89/19 beyond revolution

, 2019

Juni 2019, Leipzig
Gesine und Maria
Zwei Gespräche

 

Es irritierte mich, dass Gesine in unserem Gespräch darauf bestand, dass damals auf den Demonstrationszügen etwas Besonderes zwischen den Menschen geschah. Ich dachte, dass ihre Enttäuschung über das, was schon wenige Monate später daraus geworden ist oder das wenige was davon übrig geblieben ist, stärker sein müsste. Sie war in ihrer Rolle als Zeitzeugin weder realitätsfern noch eitel. Ich war es, Vertreterin der nachfolgenden Generation, die ihre Vorurteile, ihre Geschichte über eine gescheiterte und bezeichnete Revolution mitgebracht hatte. Gesine sprach von dem Moment, als sich ihnen die Menschenmassen anschlossen, als einem Motor, der uns gemeinsam in die Zukunft tragen kann.

 

Maria erklärt nicht viel. Sie steht nicht gern im Mittelpunkt, weder als Person noch mit ihrer Meinung. Sie sagte, sie hätte einfach alles fotografiert, was ihr vor die Kamera kam. Die Leute hätten ihr zugerufen: “Ja, halt das fest! Hier wird Geschichte geschrieben!”

 

Gesine Oltmanns, Bürgerrechtlerin, Mitinitiatorin der Leipziger Montagsdemonstrationen 1989, Vorstand Stiftung Friedliche Revolution
Maria Notbohm, ruderte in der Nationalmannschaft der DDR, Physiotherapeutin und Amateurfotografin ist die Urheberin der von mir verwendeten Fotografien

 

Ausgangspunkt der künstlerischen Arbeit 89/19 beyond revolution sind Fotografien der Leipziger Montagsdemonstrationen der Amateurfotografin Maria Notbohm. Die Fotografien um den Jahreswechsel 1989/90 dokumentieren – wenn man das so sehen will – das erlöschende Moment des politischen Wandels in der DDR, der revolutionäre Aufbruch wird gerade zu Grabe getragen. Dennoch, die Menschen erarbeiten sich gemeinsam ein demokratisches Format. Sie skandieren, warten, demonstrieren. Sie sind verwundert, voller Erwartungen, fordernd. Die Einzelne, die zufällig in die Kamera schaut, der zurückblickende Mann, offene Blicke, Menschen, die gleichzeitig in der Masse und bei sich selbst zu sein scheinen. Die Menschen vor 30 Jahren waren unsicher, erwartungsvoll, skeptisch. In jedem Fall hatten sie eine in die Zukunft gerichtete Vorstellung von etwas Gutem. Welche Bedeutung kann das heute für uns haben?

Offen für Alle lautete eine Botschaft der frühen Initiatoren derMontagsdemonstrationen in Leipzig. Bis zum 09. Oktober 1989 waren die Demonstrationszüge auch ein gefährlicher Ort. Danach waren sie bereits Ventil für Vieles und Viele. Auch Rechtsradikale marschierten mit. Die revolutionäre Bewegung, die die Bürgerrechtler in Gang gesetzt hatten, wurde durch die Maueröffnung am 09. November 1990 quasi begraben. Die Masse steuerte mit jedem Montag weiter in Richtung Deutschland einig Vaterland. Ich sprach darüber mit der ehemaligen Bürgerrechtlerin Gesine Oltmanns und fragte sie, ob sie über die Entwicklungen enttäuscht ist. Sie antwortete mir, dass dies nicht relevant sei. “Relevant ist rückblickend der Moment, als sich alle anschlossen und friedlich miteinander für Veränderungen demonstrierten. Was 1989 geschehen ist, bleibt als eine Art Motor: Das war und ist möglich.”

Die unbeholfene, fehlerhafte Amateurfotografie verhält sich formal dazu auf den Punkt genau. Angeschnittene, überblitze Köpfe, fehlerhafte Perspektiven - die Fotografin steckt in verschiedener Hinsicht mittendrin im Geschehen. Bei der Auswahl und Bearbeitung des Originalmaterials legte ich den Fokus auf die Präsenz der einzelnen Menschen, auf die, die aufgrund der Bildkomposition, weil sie zurück bleiben oder zufällig direkt in die Kamera blicken, aus der Masse heraus stechen. Die zufällig von der Kamera eingefangenen Blicke zeigen Erwartung und Bereitschaft. Hoffnungen und Wünsche an eine positive, aber ungewisse Zukunft stecken in diesen Blicken. Die Kehrseite derselben Medaille sind Skepsis, Angst und Wut. Individuen sind divers, aber innerhalb des fotografischen Abbilds hat jeder Mensch seinen/ihren Platz in der Menschenmenge garantiert.

 

Diese Arbeit wurde ermöglicht dank ...

 

Mein künstlerisches Forschungsprojekt zu Privaten Fotografien in Ostdeutschland zwischen 1980 und 2000 erhielt beim Ideenwettbewerb zum Lichtfest 2019 der Stadt Leipzig im Dezember 2018 den Zweiten Platz und wurde mit Mitteln der Stadt Leipzig ermöglicht. Der Kunsthistoriker Dr. Friedrich Tietjen ist maßgeblich an der Entwicklung dieser Arbeit beteiligt. Ich lernte die Leipziger Amateurfotografin Maria Notbohm kennen, die mir ihre Fotografien zur Verfügung stellte. Maria fotografiert seit den 1970er Jahren intensiv, arbeitete im Fotoclub, beteiligte sich an Stadt- und Bezirkswettbewerben. Die Montagsdemonstrationen besuchte sie ab Ende 1989 aus Interesse. Als die Sprechchöre Deutschland einig Vaterland zunahmen und bald die Wir sind das Volk Rufe ablösten, ging sie als distanzierte Beobachterin mit. Ihr Ziel war, mit ihrer Kamera das Zeitgeschehen festzuhalten. Gesine Oltmanns ist Bürgerrechtlerin, eine der Initiator:innen der Leipziger Montagsdemonstrationen 1989 und Vorstandsmitglied der Stifung Friedliche Revolution.

The work 89/19 was created as part of the project „Private Photographs in East Germany between 1984 and 2000“ in cooperation with Dr. Friedrich Tietjen and the city of Leipzig on the occasion of the 30th anniversary of the Leipzig Monday Demonstrations. The starting point of my artistic appropriation are amateur photographs, which were taken there around the turn of the year 1989/90. The slogans and demands are controversial. The wall is already open, political change within the GDR will no longer take place. For my work, I was interested in giving space to coincidence, individuals, how they gaze around oneselfs, their gestures and interactions that accompany every political and democratic movement. This is intended to give the past a reference to the present.
The author of the photographs I use is the amateur photographer Maria Notbohm. “I went to the demonstrations out of interest in current events. People were shouting at me: Yeah, hold on to that. History is being made here. ”